Nicht nur Mauern

(Dieser Text wurde von Heiner Busch verfasst und im megafon, der Zeitung aus der Reitschule Bern, publiziert. www.megafon.ch)

Stetig mächtigerer Grenzschutz, Radar-, Drohnen- und Satellitenüberwachung sowie mehr und mehr Datenbanken: Die EU rüstet auf –dystopischer denn je.

Der kürzlich verstorbene Jakob Arjouni hat vor einigen Jahren eine satirische Negativutopie vorgelegt: Sein Roman «Chez Max» spielt im Jahr 2064. Ein Zaun schützt das mit Wohlstand und allen Fortschritten der Technik gesegnete «Eurasien» vor der Armut, der Gewalt und den Bürgerkriegen im Süden und natürlich auch vor illegalen Einwanderern, die den «Terrorismus» ins gelobte Land importieren könnten. In Eurasien ist es gängige Praxis, dass Verbrechen bereits im Vorfeld erkannt werden. Für das Ausschalten potenzieller Täter_innen und «illegaler» Immigrant_innen sorgt die staatliche Geheimorganisation «Ashcroft», für die Max Schwarzwald, die Hauptfigur des Romans, der Wirt des «Chez Max», arbeitet.
Satire hat das Recht auf Übertreibung, allerdings muten viele Elemente der Erzählung durchaus realistisch an. Nachdem die Mauern des Kalten Krieges gefallen sind, treten die Grenzen zwischen den reichen kapitalistischen Metropolen und der Peripherie umso deutlicher hervor. An einigen Stellen sind es in der Tat «Zäune», die die Trennlinie markieren. Ceuta und Melilla, die spanischen Außenposten in Afrika, sind seit Jahren durch mehrere Meter hohe Absperrgitter vom marokkanischen Umland getrennt. Griechenland lässt derzeit am Evros, dem Grenzfluss zur Türkei im Nordosten des Landes, eine weitere Mauer bauen. Solche militärisch geschützten physischen Barrieren machen den gewaltsamen Charakter der Grenze zwischen Europa und dem Trikont, die in den letzten Jahren tausende Menschenleben gekostet hat, offensichtlich.

Frontex
Über ein Grenzschutzkorps, wie es der damalige deutsche Innenminister Otto Schily im März 2001 gefordert hatte, verfügt die EU zwar (noch) nicht. Die Grenzschutzagentur Frontex, die im Oktober 2005 ihren Betrieb aufnahm und seither einen kontinuierlichen
personellen und finanziellen Ausbau erlebte, hat zwar formell nur «koordinierende» Funktion. Allerdings hat sie ebenso kontinuierlich an politischem Gewicht zugelegt. Sie testet und entwickelt neue Technologie. Sie verhandelt mit Pufferstaaten auf der anderen Seite der EU-Aussengrenzen. Vor allem aber leistet sie mit den von ihr koordinierten gemeinsamen Operationen der Schengener Grenzpolizeien einen zentralen Beitrag zur Abschottung der Grenzen.
Mit der neuen Frontex-Verordnung von 2011 erhielt die Agentur eine breitere personelle und technische Basis: Die Schengen-Staaten ordnen nun Grenzschützer_innen für jeweils ein halbes Jahr als «nationale Experten» an Frontex ab. Für die Aufstellung von Frontex-Unterstützungsteams bilden die nationalen Grenzpolizeien nun «Pools» von Beamt_innen, die innerhalb von dreissig Tagen für eine gemeinsame Operation aufgeboten werden können. Solche festen Kontingente gab es bisher nur für die «Soforteinsatzteams» (Rabits), die bis anhin aber nur einmal genutzt wurden – nämlich an der griechisch-türkischen Grenze. Ähnliches gilt bei der Ausrüstung. Auch hier müssen sich die Schengen-Staaten nun anhand eines Jahresplans verpflichten, Frontex Material zur Verfügung zu stellen. Zudem darf die Agentur nun in grösserem Masse selbst Ausrüstung anschaffen. Der Übergang zu permanenten gemeinsamen Operationen ist damit gewährleistet.

Eurosur
Auch mit dem Aufbau des Grenzüberwachungssystems «Eurosur», der bis 2014 abgeschlossen sein soll, wird Frontex mehr Macht gewinnen. Die Agentur wird künftig als eine Art Einsatzzentrale der nationalen Grenzschutzkoordinationsstellen dienen, in die in einigen Staaten auch militärische Apparate (etwa die Marine oder militärische Polizeien) eingebunden sind.
Das Überwachungssystem wird sich neben den mittlerweile üblichen Radarsystemen an den Küsten auch auf Positionsdaten aus Schiffsortungssystemen und Fischereiüberwachungszentren stützen. Nutzen will man aber auch Daten aus Drohneneinsätzen und der Satellitenaufklärung im Rahmen des EU-geförderten GMES- Projekts (Global Monitoring of Environment and Security). Satelliten erfassen grosse Teile der Erde und können daher auch Bilder von offener See und von Drittstaaten liefern, erklärte die EU-Kommission 2008 in ihrer Vorstellung des Projektes. Das tun sie aber nur beim Überflug des betreffenden Gebiets. Wegen der bis zu zwei Tage langen Zwischenzeiten hielt die Kommission den Rückgriff auf Satellitenbilder nur da für sinnvoll, wo kein sofortiges Handeln gefordert sei – bei vorher bestimmten, insbesondere bei weiter entfernten Gebieten. Drohnen brauchen Treibstoff und können nicht permanent fliegen. Sie seien anders als Satelliten geeignet, «Objekte» zu verfolgen und ständig Bilder zu liefern.

Noch mehr Datenbanken
Datenbanken bildeten seit den 70er Jahren schon im nationalen Rahmen den Hintergrund der Grenzkontrolle. Mit dem Schengener Informationssystem (SIS) entstand das erste supranationale polizeiliche Datensystem. Seit seiner Inbetriebnahme im Jahre 1995 handelte es sich kontinuierlich bei über 80 Prozent der darin gespeicherten Personen um «Drittausländer_innen », die zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben waren. Daran wird auch die Einführung des SIS der zweiten Generation nichts ändern.
Mit dem SIS II, das im März in Betrieb gehen soll, und dem Visa-Informationssystem (VIS), das Ende des Jahres weltweit allen Konsulaten der Schengen-Staaten zur Verfügung stehen wird, hält bei der Grenzkontrolle auch die Biometrie Einzug. Eine Technik, die noch in den 90er Jahren allenfalls dazu geeignet schien, den Zugang zu speziell zu sichernden Orten auf einige wenige Befugte zu begrenzen, soll nun für die Zugangskontrolle zu einem Kontinent sorgen. SIS II und VIS, die auf einer gemeinsamen technischen Plattform betrieben werden, unterstreichen den engen Zusammenhang zwischen der verpolizeilichten Ausländer- und Visumspolitik der EU einerseits und der in starkem Maße auf Ausländer_innen ausgerichteten Polizeikooperation andererseits. So werden die Konsulate das polizeiliche SIS II abrufen, während die Polizei sowohl bei Grenz- als auch bei Inlandskontrollen Zugang zum VIS erhält.
Die Verzögerungen beim Aufbau dieser beiden seit 2001 geplanten Systeme hält die EU nicht davon ab, weitere Datenbanken zu entwickeln. Im Rahmen ihrer «Smart-Borders»-Initiative soll unter anderem ein Ein- und Ausreise-Kontrollsystem (EES) entstehen. Im
Visier hat man dabei die so genannten Overstayers, also Leute, die zwar legal einreisen, aber nach Ablauf der Visumsfrist oder der üblichen 90 Tage visumsfreien Aufenthaltes
bleiben. Alle «Drittausländer_innen» sollen bei ihrer Einreise mit ihren Fingerabdrücken erfasst werden. Wird die Ausreise nicht in der vorgesehenen Frist registriert, soll das EES dann einen Alarm ausgeben.

Die Grenze ist überall
Das Bild der «Festung» taugt nur begrenzt für die Beschreibung der neuen europäischen Grenzen. Diese sind eben nicht nur Mauern auf einer bestimmten Linie. Sie beginnen weit davor. Nachbarstaaten werden als Pufferstaaten genutzt. In den 90er Jahren waren es Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, die sich in die Kontrolle und Überwachung ihrer Westgrenzen einbinden ließen. Heute haben die Ukraine im Osten und die Türkei im Südosten diese Funktion übernommen. Und auch die Mahgreb-Staaten haben es trotz des arabischen Frühlings nicht geschafft, sich aus dieser Rolle zu befreien.
Zugleich hat die Abwehr unerwünschter Immigrant_innen und Flüchtlinge eine Vergrenzung des Inlands bewirkt: Sie zeigt sich zum Beispiel in «verdachts- und ereignisunabhängigen» Kontrollen, die auch das Grenzwachtkorps betreibt, seit die Schweiz der Schengen-Gruppe beigetreten ist.
Arjounis Jahr 2064 hat schon begonnen, nur ist es nicht so komisch wie im Roman.

> Heiner Busch <