Ostermarsch

21. April 2025

Referat von Laurent Goetschel

Es gilt das gesprochene Wort.

Zur aktuellen Relevanz von Friedenspolitik

Kaum bricht irgendwo ein Krieg aus, werden meine Kolleginnen und ich bei der Schweizerischen Friedensstiftung (swisspeace) gefragt, ob die Friedenspolitik noch relevant sei. Das ist ungefähr gleich, wie wenn man beim Ausbruch einer Pandemie die Relevanz der Medizin in Frage stellen würde. Gewisse tun das, aber es sind vielleicht nicht die Intelligentesten. 

Kriege bewirken aber auch ein konstruktives Interesse an Frieden: Erst Kriege machen die Bedeutung von Frieden wirklich sichtbar. Sie steigern die Sehnsucht nach Frieden. Da kann man ansetzen und sich fragen, wieso es so weit gekommen ist, dass wir in der Ukraine, aber auch in Israel-Palästina oder im Sudan Krieg haben. Wieso tun Menschen dies einander an? Was erhoffen sie sich davon? Und vor allem aber auch, was können wir dagegen tun? 

Ich werde Ihnen in den nächsten paar Minuten kein pfannenfertiges Rezept darauf liefern können. Ich könnte es auch in einigen Stunden nicht tun. Aber ich werde ein paar Anhaltspunkte dazu liefern. 

1) Kriege werde dann geführt, wenn die Konfliktparteien denken, dass sie damit ihre Ziele besser erreichen können als mit anderen Mitteln. So irrational Kriege uns als Individuen erscheinen können, so rational werden sie durch Entscheidungstragende beschlossen. Wenn wir Kriege vermeiden wollen, müssen wir uns folglich überlegen, a) welches mögliche Motivationen der potentiell Kriegsführenden sein könnten, und b), wie wir die Kosten des Krieges so erhöhen können, dass sich Krieg nicht lohnt.

2) Friedenspolitik (und Friedensforschung) versuchen, sowohl auf die Motivationen wie auch auf die Rahmenbedingungen für den Umgang mit Konflikten einzuwirken. Oder konkreter: Es geht darum, die Anreize für den Krieg zu mindern und zugleich die Kosten eines Missgriffs zu erhöhen. 

3) Für beides sind politische Werte und eine darauf beruhende und funktionierende internationale politische Ordnung zentral. Ein Land wie die Schweiz und wir als Bürgerinnen und Bürger können dazu beitragen. 

4) Wir müssen uns bewusst sein, dass es auch schief gehen kann. Niemand ist vor Fehlern gefeit. Auch wenn es zu Kriegen kommt, heisst dies noch lange nicht, dass die Friedenspolitik obsolet geworden ist. Wir müssen jedoch bereit sein, aus Fehlern zu lernen und besser zu werden. 

Damit komme ich zu den Forderungen des diesjährigen Ostermarsches: nach ‘echter Sicherheit’ und der ‘Abschaffung von Atomwaffen’. 

‘Echte Sicherheit’ verbinde ich mit ‘kooperativer’ Sicherheit: Es geht darum, ein Sicherheitsverständnis zu fördern, dass gemeinsamen Erwartungen und Werten gerecht wird. Jegliche langfristige Lösung für den Krieg in der Ukraine wird auf einem solchen gemeinsamen Sicherheitsverständnis beruhen müssen. Es geht nicht nur darum, den Krieg zu beenden, sondern auch darum besorgt zu sein, dass es möglichst nicht zu einem weiteren militärischen Konflikt kommt. 

Es hatte in den 90er Jahren solche Bestrebungen gegeben. Aber sie gerieten aus verschiedenen Gründen in den Hintergrund. Und Europa begab sich einer Illusion hin, nämlich dass wirtschaftliche Beziehungen allein Russland dazu bringen könnten, sich als Teil der ‘europäischen Familie’ zu fühlen. Es gab einige Warnzeichen, dass dies nicht funktionieren würde, etwa die blockierten Gespräche zum Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, oder spätestens ab 2014 die Annexion der Krim und Besetzungen im Osten der Ukraine. Auch nahmen die innenpolitischen Einschränkungen in Russland immer weiter zu. Aber der Westen liess sich täuschen, vielleicht auch, weil es wirtschaftlich so angenehm war. Einerseits verdiente man gut an den wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland, andererseits förderte man die Demokratie in der Ukraine und bereitete den Weg für deren Annäherung an die EU vor. Die politischen Veränderungen in der Ukraine waren so erfolgreich, dass sie vom russischen Präsidenten als Bedrohung für die Stabilität seines eigenen politischen Systems gesehen wurden. 

Wir im Westen gingen davon aus, dass es im Interesse Russlands sein müsste, wenn wir uns ihm wirtschaftlich und politisch immer weiter annähern würden. Wir haben nicht begriffen, dass die Machthaber in Russland dies als existentielle Bedrohung ihrer eigenen politischen und wirtschaftlichen Ordnung wahrnahmen. Im Hintergrund gab es noch die NATO, aber sie war wohl bei weitem nicht der entscheidende Faktor. 

Wenn wir ‘echte Sicherheit’ anstreben, dann kann diese nur gemeinsam im Sinne der ‘kooperativen Sicherheit’ erreicht werden. Die militärische Unterstützung der Ukraine steht dem nicht entgegen, aber sie reicht nicht aus. Wir müssen an einer gemeinsamen Vision für ein ‘Nachkriegseuropa’ arbeiten. Diese wäre im Vergleich zu den Kosten der militärischen Aufrüstung unglaublich billig zu haben. Trotzdem habe ich noch kaum etwas dazu von politischen Entscheidungstragenden gehört. Aber es gilt der Satz: Wenn man Frieden will, muss man den Frieden denken und darauf hinarbeiten. Es reicht nicht, sich gegen Krieg zu wappnen. Damit ist keine ‘echte’ Sicherheit, keine Friedensvision verbunden. 

Nun zu den Atomwaffen: In der globalen Gleichgewichtslogik des Kalten Krieges schützten Atomwaffen vor Kriegen. Es handelte sich um das sogenannte ‘Gleichgewicht des Schreckens’. Aber Atomwaffen schützen nicht nur vor Kriegen. Atomwaffen ermöglichen auch Kriege. Sie symbolisieren wie kaum eine andere Waffe das Denken in Einflusszonen. Innerhalb dieser Zonen könnten Staaten agieren und abschrecken. Wenn wir zurück zur Ukraine kehren, bleibt die Tatsache, dass Russland als Militärmacht rein konventionell den westlichen Staaten unterlegen ist. Es ist die Drohung mit Atomwaffen, welche den Westen davon abhielt, die Ukraine stärker zu unterstützen und damit handkehrum Moskau den Eindruck verlieh, das Land unbekümmert angreifen zu können. Es lässt sich zugespitzt formulieren: Die Existenz von Nuklearwaffen und das damit verbundene Denken in Einflusszonen hat den Krieg in der Ukraine ermöglicht. 

Zugleich wurde, durch die Zusammensetzung und Funktionsweise des UN-Sicherheitsrates, eine militärische Reaktion der Weltgemeinschaft verunmöglicht. Wenn dieses Denken weiter um sich greift, wird es nicht nur keine Reduktion, sondern eine Zunahme von Atomwaffen geben. Am weitesten fortgeschritten ist dieses Denken in der konservativen Partei in Südkorea, wo länger je weniger die nukleare Garantie der USA als genügende Abschreckung gegen einen möglichen Angriff Nordkoreas gesehen wird. 

Dabei gibt es ein grundsätzliches Missverständnis: Atomwaffen stehen nicht für die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung, sondern für deren Defizite: Je weniger glaubwürdig die internationale Ordnung, also je geringer das Vertrauen, dass Kriege durch die Weltgemeinschaft bestraft werden, umso grösser das Verlangen nach Atomwaffen. 

Die Forderung nach der Abschaffung von Atomwaffen ist somit nicht als isolierte Forderung zu verstehen. Es geht um ein sehr gewichtiges Zeichen für die Stärkung der Vereinten Nationen und einem Verständnis gemeinsamer Sicherheit für alle Staaten und deren Bevölkerungen. Atomwaffen sind nicht Ausdruck internationaler Stabilität, sondern internationaler Defizite und der Instabilität. 

Und um noch etwas aktueller und präziser zu werden: Wer in der Schweiz möchte im Ernstfall seine Sicherheit sprichwörtlich in die Hand des aktuellen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump legen, der mit seinem Finger auf den roten Knopf drücken müsste? 

Dass die Schweiz bisher nicht dem TPNW beigetreten ist, kann nur als Ausdruck eines Denkens in überholten Kategorien gedeutet werden, eines Beharrens auf alten Denkmustern und des mangelnden Mutes für das Einstehen für die eigenen humanitären Prinzipien. 

Zurück zum Anfang: Friedenspolitik kann nicht alle Probleme der Welt lösen. Aber sie hilft, Kriege und Ab- sowie Aufrüstungsfragen in eine Gesamtperspektive zu stellen. Vor allem verleiht sie der Aussen- und Sicherheitspolitik von Staaten eine Vision. Die Schweiz hat unzählige Aussen- und Sicherheitspolitische Strategien verfasst. Vielleicht wäre es an der Zeit, auch einmal eine Friedensstrategie zu erstellen.